Neubeginn in Irland

Anna Neela Urban ist Oberstufenschülerin der IGS Roderbruch und hat eine Reportage über eine Schülerin geschrieben, die neun Monate als Austauschschülerin in Irland verbracht und sich dabei selbst neu kennengelernt hat. Beim HAZ Schreibwettbewerb hat Neela den 1. Platz gemacht.

Wir drucken den Text hier ab – danke dafür Neela!

Das Neonlicht in der Abflughalle des hannoverschen Flughafens ist grell. Der Himmel hinter der Glasfront ist nachtdunkel, doch müde ist keiner der Jugendlichen für die heute das größte Abenteuer ihres bisherigen Lebens beginnen soll. Die feuchten Spuren des Abschieds auf dem Gesicht der 16-jährigen Stella Lessing sind noch nicht getrocknet und doch umspielt ein Lächeln ihre Lippen. „Jetzt geht es wirklich los!“

Eineinhalb Jahre hatte sie sich mit der Vorbereitung ihres Auslandsjahres in Irland beschäftigt. Organisationen, Länder und Preise verglichen, duzende Bewerbungen geschrieben, lange Formulare ausgefüllt,
Auswahlgespräche, Englischtests und eine Vorbereitungstagung absolviert. Sie hatte Diskussionen mit ihren Eltern geführt, war in der Schule regelmäßig mit neuen Formularen aufgetaucht und hatte gespannt auf eine
Nachricht der zukünftigen Gastfamilie gewartet.Dass es so viel Zeit beansprucht, hätte sie zuvor nicht erwartet, erzählt die Schülerin. „Ich hoffe einfach, dass es sich am Ende gelohnt hat.“

Mit dieser Hoffnung ist sie nicht alleine: Etwa 20.000 Schüler entscheiden sich jedes Jahr dafür, eine Zeit im Ausland unter dem Dach einer Gastfamilie zu leben. Noch immer ist das beliebteste Land die USA, doch das
Angebot ist größer geworden. Als englischsprachige Alternativländer sind Australien, Kanada, Neuseeland, Großbritannien oder Irland sehr gefragt. Aber auch exotischere Wege werden beschritten und führen die
Austauschschüler für ein Jahr nach Lateinamerika oder in asiatische Länder wie China oder Indien.

 „Etwas Besonderes ganz gleich wie exotisch das Land ist“

Wie man sich bei dieser großen Auswahl entscheiden soll? „Ich wollte mein Englisch verbessern“, erzählt Stella. Mittlerweile wäre sie aber davon überzeugt, dass das Land gar nicht so entscheidend ist. „Ein Auslandsjahr ist immer etwas Besonderes, ganz gleich wie exotisch das Land ist, oder wie weit weg es sich befindet.“ Die Kultur sei trotzdem anders und neu.

Neben dem Erlernen einer Fremdsprache ist es häufig diese Neugier auf eine fremde Kultur, die die Schüler ins Ausland zieht. Interkulturelle Kompetenzen, Offenheit und Toleranz sind von Vorteil in der globalisierten Welt, in der wir leben. Dieser „Karriereaspekt“ ist insbesondere für Eltern häufig ein ausschlaggebendes Argument, die durchschnittlich 9.000 Euro als sinnvolle Zukunftsinvestition in die Hand zu nehmen. Für viele ist der hohe Preis aber eine abschreckende Hürde. Statistiken von Austauschorganisationen zeigen, dass gut 90 Prozent der Austauschschüler Gymnasiasten sind. Nur ein Bruchteil sind Real- und Hauptschüler. Das liegt zum Teil an dem sozialen Hintergrund der Jugendlichen. Zwar vergibt fast jede deutsche Austauschorganisation Stipendien und mit viel Aufwand kann das sogenannte „Auslands-BaföG“ beantragt werden, doch im Wesentlichen werden die Kosten von den Eltern getragen.

Ein weiteres Problem ist die verkürzte Schulzeit mit G 8. Viele Schüler scheuen sich davor, eine Klasse wiederholen zu müssen und entscheiden sich dagegen, neun bis zehn Monate im Ausland zu verbringen. Oder sie wählen
die Möglichkeit, nur für ein halbes Jahr eine Schule im Ausland zu besuchen, meistens zwischen der zehnten und elften Klasse. „Ich muss zum Glück nicht wiederholen“, erklärt Stella. Doch auch, wenn das nicht so gewesen wäre, hätte sie sich für das Auslandsjahr entschieden, fährt sie fort. „Die Vorteile überwiegen.“

„Ich will wissen, wer ich bin, wenn mir niemand zuschaut“

Unbedingt wolle sie diesen Blick über den Tellerrand wagen, an herausfordernden Situationen wachsen, selbstständiger, selbstbewusster werden und sich in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln. „Ich will einfach wissen, wer ich bin, wenn mir niemand zuschaut.“ Ganz neu anfangen, wenn auch nur für 9 Monate. Mit diesen Worten steigt die Schülerin in das Flugzeug nach Irland.

Neun Monate später sitzt sie auf dem Boden in ihrem Zimmer in dem Haus ihrer Gastfamilie. Der geöffnete Koffer steht auf dem Bett. Einige wenige Sachen liegen bereits darinnen, doch der Großteil ist in dem kleinen
Zimmer verteilt. Neun Monate Leben in einem Koffer zu verpacken, heißt es jetzt. Auf dem kleinen Schreibtisch stapeln sich Schulsachen. Mathebücher und Hefte, ein irisches Geschichtsbuch, ein Paar eingerollte Kunstwerke und ein Biologieheft, gefüllt mit englischen Fachbegriffen, deren deutsche Übersetzung die Schülerin nicht einmal kennt, die sie aber in fließendem Englisch erklären kann.

„Ich bin mal gespannt, wie der Englischunterricht in Deutschland wird“, sagt Stella während sie durch eine abgenutzte Ausgabe von „Wuthering Heights “ blättert. Zahlreiche Seitenecken sind umgeknickt, Klebezettel ragen heraus, Neonfarben kennzeichnen unzählige Zeilen und Bleistiftnotizen in Deutsch und Englisch verzierendie Seitenränder. „Vor einem Jahr hätte ich das noch nicht so gut verstanden.“

Aber sie hat viel mehr gelernt als nur Englisch. „Ich bin jetzt viel selbstbewusster und auch eigenständiger.“ Das Leben mit einer Gastfamilie sei ganz anders als gewohnt, berichtet sie. „Die eigene Familie kennt man in und auswendig: jedes Ritual, den Alltag.“ In einer fremden Familie müsse man sich dieses Wissen erst aneignen, aber schnell würde man sich anpassen und gewöhne sich an den fremden Alltag. „Es ist nicht immer einfach, sich in eine innige Familie einzufügen ohne sich nicht mal außen vor zu fühlen, ohne ab und zu stumpf zu lächeln und zu nicken, wenn alle über Insiderwitze lachen oder ohne einen kleinen Heimwehstich zu fühlen, wenn die Gastmutter mit dem Gastbruder am Sonntagmorgen zusammen im Bett herumalbert.“

Smaragdgrüne Wiesen besprenkelt mit weißen „Schafsflecken“

Und trotzdem, erzählt sie, wächst einem die zweite Familie abseits der Heimat ans Herz und man genießt dieses andere Familienleben. „Ich habe gelernt, viele Dinge selber zu regeln. Ich wurde z.B. nicht mehr mit dem Auto herumkutschiert, sondern war nur noch mit dem Bus unterwegs.“ Dafür hatte sie aber auch viel mehr Freiheiten. „Manchmal hat es sich fast so angefühlt, als wäre ich schon zu Hause ausgezogen und würde jetzt in einer WG leben.“

„Aber ich werde sie vermissen.“, sagt Stella während sie eines der zahlreichen Fotos von der Wand nimmt. Drei Gesichter lachen einem entgegen. Gastmutter, Gastbruder und ‘the german daughter .‘ An der Wand hängen auch Fotos aus Deutschland. Eltern, Bruder, Freunde, Großeltern … „am Anfang habe ich das gebraucht: täglich in die Gesichter meiner Liebsten zu schauen, um mich nicht so einsam und verloren zu fühlen.“

Der Kulturschock habe sie mit voller Breitseite getroffen. Alles, was sie wollte, war in das nächste Flugzeug nach Hause zu steigen. Doch jedes Heimweh ist irgendwann überwunden. „Als ich mich in meinem neuen Alltag
eingelebt hatte, wurde es einfacher.“ Als alle Fotos gut eingepackt sind, geht es an der anderen Wand weiter. Dort hängt eine Irlandkarte und darum herum Postkarten: Klippen, an denen sich die Wellen brechen, Burgruinen, Wasserfälle, smaragdgrüne Wiesen besprenkelt mit weißen ’Schafsflecken‘, Sehenswürdigkeiten aus Dublin, Belfast und Cork, das Trinity College, das Titanicmuseum, die Cliffs of Moher.

“Überall habe ich Postkarten gekauft”, erzählt Stella. „Und das sind gar nicht alle! Es war nur kein Platz mehr an der Wand“, lacht sie. „Zusammen mit meinen Freunden habe ich versucht, so viel wie möglich von Irland zu sehen. An den Wochenenden oder in den Ferien waren wir ständig unterwegs. Wir hatten unglaublich viel Spaß gemeinsam, sind richtig eng zusammengewachsen und ich habe mich mit jedem einzelnen Tag mehr in diese wunderbare Insel verliebt.“

Natürlich gab es auch Nachteile: „Manchmal bin ich so durchnässt in die Schule gekommen, dass ich erst wieder trocken war, als ich zu Hause meine Sachen gewechselt hatte. Manchmal musste ich im Bus dreimal nachfragen, bis ich mich durch den starken irischen Akzent gehört hatte. Manchmal hing mir auch die Schuluniform zum Hals heraus“, sagt sie während sie den grünen Pulli mit dem Schulwappen zusammenlegt. Rock und Bluse folgen. „Aber ich werde es vermissen, dass es morgens so schnell geht und ich nicht mehr über meine Kleidung nachdenken muss.“

Die Schule war ein großer Bestanteil des Auslandsjahres und Pflicht für jeden Austauschschüler. Doch die Noten sind unwichtig, weswegen es viel entspannter sei, sich jeden Tag aus dem Bett zu quälen. Es würde sogar Spaß machen, seine Freunde jeden Tag zu sehen und Schule mal in einer anderen Kultur zu erleben.

„We ́ll miss you“

Als letztes findet das frischgeschossene Klassenfoto den Weg in den Koffer. Alle haben unterschrieben. „We ́ll miss you“ steht auf der Rückseite. Der Koffer geht nur schwer zu. „Mein irisches Leben befindet sich in diesem Koffer. Ein Leben, das ich alleine in der Fremde aufgebaut habe. Ein Leben, in das ich nie wieder vollständig zurückkehren werde.“

Wieder sind ihre Wangen tränenfeucht. Und wieder ist da das Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielt. Jetzt geht es nach Hause. Es ist ein Zurückkehren, doch es fühlt sich fast wie ein Neuanfang an, denn „irgendwie
ist alles anders.“

„Aber vermutlich habe nur ich mich verändert und zu der Person gefunden, die ich bin, wenn niemand zuschaut.“

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