Hannah Arendt: Eine Philosophin für Jugendliche?

Warum die Gedanken der Hannoverschen Philosophin Hannah Arendt noch immer hochaktuell sind und aus welchem Grund sich Jugendliche mit ihren Ideen und Theorien auseinander setzen sollten, das haben wir Pauline Metz gefragt.

Vorbereitet und umgesetzt hat das Interview der Wahlpflichtkurs Medien im 11. Jahrgang.

Pauline Metz

Liebe Frau Metz, würden Sie sich uns bitte einmal vorstellen? 

Ja, gerne. Ich bin Pauline Metz und habe vor kurzem meinen Bachelor in Philosophie abgeschlossen und arbeite momentan freiberuflich für die LHH.

In einem Satz: Wer ist Hannah Arendt für Sie?

Sie ist für mich ein Vorbild sich auch mit unbequemen Fragen zu konfrontieren und stets nach der Wahrheit zu suchen.

Wie kam es zu Ihrer ersten Begegnung mit der Philosophin Hannah Arendt?

Ich hatte das große Glück, dass auf meiner Schule ab der 10. Klasse Philosophie Unterricht auf dem Stundenplan stand. Damals beschäftigten wir uns mit Arendts Stellungnahme zum Adolf-Eichmann-Prozess, der 1961 in Israel stattfand. Adolf Eichmann war ein deutscher SS-Obersturmbannführer. Er organisierte die Vertreibung, Verfolgung und Deportation von Juden und war mitverantwortlich für die Ermordung von schätzungsweise sechs Millionen Menschen. Nach Ende des 2. Weltkrieges tauchte er in Argentinien unter und wurde erst Jahrzehnte später dort aufgegriffen. Während des Prozesses, in dem 110 Überlebende und Angehörige von Opfern der Nationalsozialisten aussagten, hat er zu keinem Zeitpunkt Anzeichen von Reue gezeigt. Bis zu seiner Verurteilung zum Tode plädierte er darauf, dass er „nur“ seine Pflicht getan habe, indem er lediglich Befehlen gehorcht hätte. Arendt kritisierte an ihm, dass er sich sein ganzes Leben lang keine Persönlichkeit konstituiert hätte. Denn eine Persönlichkeit bildet sich dadurch, dass man reflektiert über seine Handlungen nachdenkt, eine individuelle Moral bildet und sich so Grenzen setzt. Ihrer Meinung nach ist es die Pflicht eines jeden Menschen, eine Persönlichkeit zu entwickeln, um Teil der Gesellschaft zu sein. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ihre Worte in mir eine Saite zum Schwingen brachten. Es war als hätte sie die Worte dafür gefunden zu formulieren was ganz selbstverständlich sein sollte. Leider dachten in meiner Klasse nicht alle so. Tatsächlich sympathisierten einige mit Adolf Eichmann und waren der Meinung, dass er keine andere Wahl gehabt hätte. Aber das stimmt nun mal nicht. Man hat eine Wahl.

Was fasziniert Sie persönlich so sehr an der Person?

Hannah Arendt wurde als Jüdin in Deutschland im Zuge des Nationalsozialismus Opfer und Zeuge unverzeihlicher Verbrechen gegen die Menschheit und auch nach ihrer Flucht in die USA und nach Ende des 2. Weltkrieges erlebte sie eine global-politisch unentspannte Zeit (kalter Krieg). Sie musste ertragen, dass sich einstige Freunde von ihr der NS-Ideologie zuwandten. Ihre Texte wurden teilweise kontrovers diskutiert und kritisiert. Sie hat sich mit komplizierten existenziellen Fragen auseinandergesetzt und zu aktuellen politischen Krisen Stellung genommen. Trotz allem hat sie es geschafft nicht verbittert zu werden und die Hoffnung in die Menschheit nicht aufzugeben. Ihr Anliegen war es die Wahrheit zu finden. Sie war ein leidenschaftlicher geselliger Mensch, der das Leben genoss und zahlreiche Freundschaften pflegte. Das ist wunderschön.

Was würden Sie sagen: Warum sollten sich Jugendliche mit der hannoverschen Philosophin beschäftigen?

Generell empfehle ich jedem Menschen sich mit Philosophie und speziell gerne mit Hannah Arendts Philosophie zu beschäftigen. Aber als Hannoveranerin empfinde ich es schon als besonders cool, dass auch Hannah Arendt gebürtige Hannoveranerin war. In Hannover gibt es zahlreiche Orte, die an die große Tochter der Stadt erinnern: Ihr Geburtshaus in Linden, das Hannah-Arendt-Haus, das ZeitZentrum Zivilcourage, der Hannah-Arendt-Raum in der Stadtbibliothek.

Die Jugend ist immer die Zukunft. Hannah Arendt war weitsichtig und einige ihrer Prognosen wurden wahr. Um sich der Zukunft zu stellen ist es wichtig von der Vergangenheit zu lernen.

Aus welchem Grund ist das eigene Denken und das eigene Urteilen so wichtig in der Philosophie Hannah Arendts?

Ich denke das hat mit ihren unmittelbaren Erfahrungen nicht nur als Mensch an sich, sondern auch als Jüdin zu tun. Sie hat erlebt, wie Propaganda, Hetze, Lügen, Unwissen und Opportunismus dazu führen konnten, dass in Deutschland 1933 die NSDAP unter Adolf Hitler an die Macht kommen konnte und wie die noch sehr junge Demokratie in eine Diktatur umgewandelt werden konnte. Bereits 1931 ging Arendt davon aus, dass die Nationalsozialisten an die Regierung kommen würden, entschied sich jedoch selbst noch gegen eine Flucht aus Deutschland, aber verhalf anderen Juden bei der Flucht. Verzweifelt und fassungslos musste sie beobachten, wie sich ehemals gute Freunde von ihr dem Nationalsozialismus zuwandten. Manche waren blind vor den versprochenen Karrierevorteilen und wollten die Wahrheit nicht sehen. Nicht sehen wollen, dass der größte Völkermord der Geschichte geplant und realisiert wurde. Nach Ende des zweiten Weltkrieges behaupteten viele von ihnen, nichts davon gewusst zu haben, doch in Wirklichkeit waren sie nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. 

Hannah Arendt beschreibt den „Denkprozess als eine Tätigkeit, bei der ich mit mir selbst über das spreche, was immer mich gerade angeht.“ Und laut Arendt bildet sich die individuelle Persönlichkeit und Moral gerade durch diesen Denk- und Reflexionsprozess und auch nur so ist es möglich Informationen kritisch zu hinterfragen, eigenständig zu urteilen und sich nicht durch versprochene Vorteile blenden zu lassen. Wir denken vielleicht allgemein, dass wir zu aufgeklärt wären, dass sich antidemokratische Tendenzen durchsetzen könnten, aber Demokratie kann nie ein fertiges Konstrukt sein, sie ist ein ewiger Prozess. Und wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt sie zu wiederholen. Also ist es wichtig sich zu erinnern, wie es dazu kommen konnte und aktiv unsere Demokratie zu stärken. Arendt ist der Meinung, „dass er besser ist, mit der ganzen Welt uneins zu sein, als Einer seiend, nicht mit mir selbst in Einklang zu stehen.“

Meinungspluralität, Machtverteilung und die Berücksichtigung verschiedener Interessen scheinen wichtige Kernthemen zu sein im Werk von Arendt: Wie gelingt uns die Umsetzung im Schulkontext?

Darauf möchte ich erstmal mit einem Zitat antworten: „Diese öffentliche Freiheit ist eine handfeste lebensweltliche Realität geschaffen von Menschen, um in der Öffentlichkeit gemeinsam Freude zu haben – um von anderen gesehen, gehört, erkannt und erinnert zu werden. Und diese Art von Freiheit erfordert Gleichheit, sie ist nur unter seinesgleichen möglich. Institutionell gesehen ist sie allein in einer Republik möglich, die keine Untertanten und, streng genommen, auch keine Herrscher kennt.“

Es ist oft bequemer mit dem Strom der Allgemeinheit zu schwimmen und andersdenkende Menschen zu verurteilen, aber

Die individuelle Persönlichkeits- beziehungsweise Meinungsbildung sollte nicht von der Angst vor Ausgrenzung durch die Umwelt geleitet sein. Mobbing ist nach wie vor ein großes Problem in Schulen und es hindert die Opfer daran ihre wahren Potenziale entdecken und erleben zu können. Die Täter versuchen oft durch die äußeren Attacken auf Andere ihre inneren Komplexe zu verschleiern. Fest steht: Bei Mobbing gibt es nur Verlierer. Umsichtigkeit, Toleranz und Verständnis im Umgang miteinander sind wichtig. Der Mut zu sich selbst und auch zu anderen zu stehen. Natürlich ist ebenfalls wichtig, dass die LehrerInnen die Anliegen ihrer SchülerInnen ernst nehmen und zeigen, dass sie als GesprächspartnerInnen zur Verfügung stehen. Für Arendt ist es vor allem das reflektierte Denken, das einen Menschen den eigenen Platz in der Welt finden lässt. Die Institution Schule sollte seinen Schützlingen dafür die optimalen Rahmenbedingungen bieten, also ein Ort der freien Entfaltung sein.

Was würde Hannah Arendt vermutlich über unsere heutige Zeit und die zahlreichen Krisen sagen? 

Wenn ist das nur wüsste, das wäre schön, aber nur Hannah Arendt darf für sich selbst sprechen, jedoch ist vielleicht dieses Zitat von ihr eine passende Antwort:

„Wenn dies stimmte, wenn es zum Wesen menschlichen Denkens gehörte, dass Menschen nur urteilen können, wo sie Maßstäbe fix und fertig zur Hand haben, so wäre in der Tat richtig, wie heute allgemein angenommen wird, dass in der Krise der modernen Welt nicht so sehr die Welt als der Mensch selbst aus den Fugen gerät.“ Das bedeutet, dass wir Menschen nicht vergessen dürfen, dass nur wir allein für uns selbst Entscheidungen treffen können und das auch nicht Anderen überlassen dürfen, auch wenn es einfacher wäre. Wir haben die Pflicht für uns selbst zu denken. 

Wenn Sie uns einen Aufsatz von Hannah Arendt oder ein Buch empfehlen würden, welches wäre das und warum?

Ich empfehle die Texte und Briefsammlung „Denken ohne Geländer“. Das Buch bietet eine gute Einführung in das umfangreiche Werk Arendts. In ausgewählten Texten und zentralen Passagen aus ihren Briefen äußert sie sich zu Fragen der Philosophie sowie den politischen Denkens und Handels, außerdem zur Situation des Menschen und zu Personen, die für ihr Leben wichtig waren. Ohne Geländer zu denken bedeutete für Hannah Arendt sich nicht einfach auf die Aussagen anderer zu stützen, sondern diese zu hinterfragen und sich selbst eine eigenständige Meinung zu bilden.

Und die letzte Frage: Vom 11. bis zum 15. Oktober finden die Hannah Arendt Tage in Hannover statt: Warum empfehlen Sie uns Jugendlichen, daran teilzunehmen?

Hannah Arendt beschäftigte sich mit den menschlichen Abgründen, mit der Sehnsucht des Menschen Teil von etwas Größerem zu sein, mit dem Menschen als soziales, denkendes und handelndes Wesen. Diese Themen sind so alt wie die Menschheit selbst und ich denke, dass Hannah Arendt durch ihre Kombination von einem wachen Blick auf die Wirklichkeit, nicht endendem Wissensdurst und realistischem Weitblick äußerst kluge Theorien zu der menschlichen Psyche machte. Sie hörte nie auf Fragen zu stellen. Deshalb empfehle ich Jung und Alt sich mit dem reichhaltigen Werk Hannah Arendts vertraut zu machen beziehungsweise vertraut machen zu lassen. Aber besonders für junge Menschen, die sich im Internet durch das Chaos unzähliger Meinungen kämpfen müssen, hält es bestimmt einige Erkenntnisse bereit, wie man zu einer reflektierten eigenständigen Meinung gelangt und was wirklich im Leben zählt. Außerdem ist das politische Engagement von Jugendlichen sehr groß. Arendt erklärt, wieso Demokratie so erstrebens- und schützenswert ist. Das Mittel dazu ist politische Partizipation, also Teilhabe. Oder mit den Worten Arendts: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“

Laut einer Studie der Bertelsmannstiftung verliert weltweit jede 5. Demokratie an Qualität und es gibt wieder mehr autoritäre als demokratische Regierungen. Womit sich Arendt beschäftigte ist also nach wie vor aktuell. Deshalb lautet das diesjährige Thema der HAT „Unkontrollierte Macht: Vom Trend zur Autokratie.“ Und es wäre wirklich toll, wenn so viele junge Leute wie möglich kommen würden. Alle Informationen zu den spannenden Veranstaltungen findet ihr hier unter: https://www.hannover.de/Wirtschaft-Wissenschaft/Wissenschaft/Initiative-Wissenschaft-Hannover/HANNAH-ARENDT-TAGE 

Die HAT finden seit 25 Jahren statt. Leider sind im Publikum vor allem ältere Menschen zu finden und wenn das so bleibt, dann wird die Veranstaltungsreihe mit diesen sterben. Eure Meinung zählt und sie will wahrgenommen und gehört werden, also kommt gerne vorbei.

Und vielen Dank, dass ihr mir so interessante Fragen gestellt habt. Es war nicht leicht sie zu beantworten und genau deshalb hat es mir viel Spaß gemacht mich mit ihnen zu beschäftigen.

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von Anders Noren.

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