Eine Frau schreibt Medizingeschichte, ohne etwas gemacht zu haben:
Der Afroamerikanerin Henrietta Lachs wurden 1951, ohne ihr Wissen und ohne ihre Einwilligung, Zellgewebeproben entnommen. Ihre vermehrten Zellen sind heute in fast jedem Labor der Welt zu finden und haben zu medizinischen Erfolgen geführt. Henrietta Lachs und ihre Familie wurde jedoch nie um Erlaubnis gefragt, ob ihre persönlichen, genetischen Informationen global verbreitet und kommerzialisiert werden dürfen. Erst 60 Jahre später, als die Debatten um Datenschutz- und speicherung aufkommen, wird der Fall hinterfragt: Wären Henrietta Lachs´ vermehrte Zellen bzw. entnommenes Gewebe noch ihr „Eigentum“ oder sind Zellen, die vermehrt wurden etwas „Neues“ und somit nicht mehr ihr Besitz? Sind entnommene Zellen als (genetisches) Material anzusehen oder als Daten? Ein Fall, der Ethik, Recht und Medizin aufeinanderprallen lässt. Ein Fall über Identität, wo sie anfängt und aufhört:
Das Leben auf der Farm
Henrietta Lacks wird 1920 in Virginia geboren. Sie und ihre Familie lebt in einfachen Verhältnissen. Als ihre Mutter bei der Geburt des zehnten Kindes stirbt, bringt der Vater seine Kinder bei Verwandten unter. Henrietta lebt von da an bei ihren Großeltern auf einer Farm und muss hart arbeiten, wodurch sie nur sechs Jahre lang zur Schule gehen kann. Auf der Farm lebt auch ihr fünf Jahre älterer Cousin David „Day“ von dem sie, im Alter von 14 Jahren ihr erstes Kind bekommt. Vier Jahre später kommt ihre Tochter Lucille Elsie zur Welt, die jedoch bereits mit 15 Jahren verstirbt. 1941 heiraten die beiden. In den folgenden Jahren bekommt das Ehepaar noch drei weitere Kinder.
Krankheit und Behandlung
Nach der Geburt des fünften Kindes 1951, leidet Henrietta Lacks unter starken unregelmäßigen Unterleibsblutungen. Sie wird von ihrem Arzt an das Johns Hopkins Hospital in Baltimore überwiesen, was zur Zeit das einzige Krankenhaus in der Umgebung ist, das Schwarze behandelt. Man stellt fest, dass sie Gebärmutterhalskrebs hat: Der Tumor ist von einem Typ, den die Ärzte im Johns Hopkins Hospital noch nie gesehen haben. Einen Tag später wird sie operiert. Man setzt ihr radioaktive Kügelchen (Radium) in die Gebärmutterhalswand ein. Allerdings setzen die Ärzte nicht nur etwas ein, sondern entnehmen Gewebsproben des Tumors, ohne Henrietta Lacks und ihre Familie um Erlaubnis zu fragen.Es folgt eine weitere Sitzung der Bestrahlungstherapie. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich immer mehr. Die Ärzte stellen zunächst akutes Nierenversagen fest. Aufgrund der Dysfunktion der Nieren tritt zusätzlich eine Urämie auf. Sie stirbt im Oktober 1951 im Alter von 31 Jahren an Krebs. Da ihre Familie nur über geringe finanzielle Mittel verfügt und sich keinen Grabstein leisten kann, wird sie in einem Familiengrab auf der Tabakplantage beigesetzt.
Ein medizinischer Durchbruch
Ihr Arzt gibt die entnommenen Gewebeproben an George Gey, den Leiter des Labors für Gewebekulturen an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Er forscht schon seit knapp 30 Jahren daran, eine unsterbliche menschliche Zelllinie zu entwickeln, mit dem Ziel ein Heilmittel gegen Krebs zu entdecken. Zwar gibt es schon zur Zeit Versuche zur Zellforschung, es gelingt den Wissenschaftlern allerdings nur Zellen zu entwickeln, die nach einer bestimmten Anzahl an Teilungen sterben. George Gey gelingt der Durchbruch: Er isoliert eine Zelllinie des Tumorgewebes und stellt fest, dass sich die Zellen innerhalb von 24 Stunden teilen. Auch nach mehreren Zellteilungen bleiben die Zellen am Leben. Die neu entstandene Zelllinie benennt er nach den Initialen der Patientin: He-La. Die erste unsterbliche menschliche Zelllinie war geboren.
Zahlreiche medizinische Erfolge werden nach der Entdeckung erzielt. Ein Impfstoff gegen Polio wird entwickelt, wofür extra eine Abteilung für die Massenproduktion von HeLa-Zellen gegründet wird. Die He-La-Zellen werden auch zur Erforschung von AIDS, Krebs und den Auswirkungen toxischer und radioaktiver Substanzen verwendet und bilden auch die Grundlage zur Entwicklung von Medikamenten wie beispielsweise Herceptin bei Brustkrebs. Mithilfe der Zellen konnte man auch mehr über die Funktionsweise von Polymerasen erfahren.
Die He-La-Zellen werden nach der Entdeckung in die ganze Welt geschickt. Es wird geschätzt, dass bisher ca. 50 Tonnen HeLa-Zellen gezüchtet wurden.
Eine unwissende Familie
Henrietta Lacks´ Familie lebt in Armut, hat nicht einmal Geld für eine Krankenversicherung. Auf der anderen Seite wird durch die Vermarktung der HeLa-Zellen jedes Jahr ein Umsatz von mehreren Millionen US-Dollar erzielt. Jeder mit einem Internetzugang kann diese Zelllinie erwerben. Sucht man bei Google nach Hela cells findet man recht weit oben in den Suchergebnissen die Seite des Unternehmens ATCC. Sie verkaufen HeLa-Zellen für 585 Euro, je nach Zelltyp liegt der Preis auch bei über 700 Euro. Die Familie weiß weder von der Kommerzialisierung, noch von der Nutzung der Zellen.
Als der Wissenschaftler Stanley Michael Gartler 1966 feststellt, dass HeLa-Zellen weltweit andere Zelllinien verseucht haben, sind viele Wissenschaftler um ihre Ergebnisse besorgt. Sie haben Angst, dass ihre wissenschaftlichen Arbeiten und Erkenntnisse infrage gestellt und verworfen werden müssen. Also beschließen sie Henrietta Lacks Familie zu kontaktieren, um Blutproben von ihnen zu entnehmen. Das Ziel der Wissenschaftler ist es über die Analyse der DNA der Familie eine genetische Karte der HeLa-Zellen erstellen zu können. Erst dann, 15 Jahre später, erfährt die Familie von der Existenz der Zellen. Die finanzielle Ansprüche der Familie sind lange verjährt.
Heute
Ob ein Patient informiert werden muss, wenn seine Zelllinie in der Forschung verwendet wird, ist bis heute unter Juristen umstritten. In Deutschland sind die Ärzte verpflichtet, Patienten über Eingriffe zu informieren. Tun dies Ärzte nicht, dann handelt es sich um Körperverletzung.
Wie dem auch sei, eins bleibt sicher: Henrietta Lacks lebt weiter, in Laboren auf der ganzen Welt. Als stille Heldin der Wissenschaft.
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