50 Jahre IGS Roderbruch – Eine Rede von Jonas Scheiner

DIE Rede zu Festakt 27.09.2023

Jenseits allen Stadtgebummels
am Saum des Saums des Zentrums
steht ein Durchgangszimmer zweier Welten zwischen Bourgeoisie und Brennpunkt

Zwischen Plattenbau und Reihenhaus getrennt allein durch eine Straße
ein Viertel wie ein Schichtsalat
mariniert im melting pot, im feinsten Maße

Ein Ort, an dem die Schienen enden und man seit jeher neue Wege denkt weil man weiß, dass nur Zusammenhalt haltbar Zusammenleben lenkt

Inmitten dieses Ortes steht ein Gebäude voller Hoffnung hier macht man die Augen auf und
sieht ein Manifest an die Ästhetik
ein Meisterwerk der Baukunst

Hier schält sich Schönheit aus dem Boden hier kann Stadtstolz wieder wachsen
hier steht ein Palast aus Alabasta
der Taj Mahal von Niedersachsen

Der optisch, so geschmeidig
nichts verspricht, was er nicht hält
malerisch vollendet, man ist sich einig
mit der schönsten Farbe dieser Welt, pissgelb

Ein Kurkuma-Klotz mit Charisma
ein halbes Jahrhundert auf dem Kerbholz diese Schule ist vielleicht nicht hübsch doch war für viele ziemlich wertvoll

Eine Chronik mit langem Atem
die alles andere als schnell erzählt ist drum gehen wir ganz langsam
ganz zurück zum Anfang

Wir schreiben 1973 und es ist wild. Während die erste Ölkrise die Weltwirtschaft ins Schwanken bringt, Watergate Nixon aus der Amtszeit kickt, Pinochet in Chile putscht und der Jom-Kippur-Krieg den Nahostkonflikt befeuert, will in Groß-Buchholz eine Erfolgsgeschichte beginnen. Ein neues Viertel, der Roderbruch, kommt seit ein paar Jahren und soll mitunter das Personal der neuen MHH beherbergen. Roderbruch, ein Name wie ein Kinnhaken.
Klingt mehr wie eine Drohung. Erst wirst du gerodet, dann gebrochen. Ein guter Ort, um die Zukunft zu gestalten.

1973 war eigentlich kein gutes Jahr, doch das Vorhaben war groß und mit einer Menge Mut geplant. Eine Schule pellt sich aus dem Ei, zeigt der Welt, die Zeit ist reif für eine Schule für alle. Mit offenen Türen und offenen Armen – so macht sie sich auf und bald schon einen Namen.

Eine Dekade später läuft die Rodi schon ganz rund. Die Schule wird 10 und schickt Menschen in die Welt, die was bewegen. Deutschlands berühmtester Hacker Karl Koch legt den Grundstein dafür, dass die Rodi rund 40 Jahre später das Gütesiegel MINT-freundliche Schule erhält. Karl Koch, eine Informatik-Ikone der IGS Roderbruch. Er war später zwar besessen von der Zahl 23 und den Illuminati, aber dafür kann die Schule nichts.

Silke Stokar von Neuforn, eine der dienstältesten Grünenpolitikerinnen der Stadt, von der ich vorher auch noch nie gehört hatte, macht hier 1983 Abi und bringt die Grünen in Hannover auf die Karte. Da war Belit Onay gerade mal zwei Jahre alt.
Und auch im Kiez tut sich was. Anfang der 80er entsteht der Roderbruch-Markt. Genuss- Umschlagplatz und Pausenoase für groß und klein, hier kauf man gerne ein, zwischen Gemüsestand und Schlecker, ein Markt der Sorte „nicht schön, aber lecker“. So lieben wirs in Roderbruch. Hier zählen die inneren Werte. Die Rodi macht sich weiter auf, auf einer couragierten Fährte.

Eine Dekade später. Die frühen 90er sind Jahre, die wir bis heute nicht richtig aufgearbeitet haben. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und 1993 schließlich Solingen. Deutschland hat sich angeblich vereint, aber vereint ist anders. Auch im Roderbruchviertel wächst das Bedürfnis für Dialog und wenn wir ehrlich sind, klappt das mittelmäßig. Aber es gibt eine Schule, die sich bemüht. In vielen Bereichen. Es wachsen inklusive Initiativen an der Rodi und nachdem sich 1993 ausgerechnet in Hannover Bündnis90 und Die Grünen zusammentun und Klimapolitik ein Thema wird, gestaltet die Schule das Gelände neu und wird vier Jahre später „Umweltschule in Europa“.

Die IGS kommt aus der Pubertät und übernimmt Verantwortung. Gemeinsame Visionen für die nachhaltige Wende. Die Geschichte dreht sich weiter und ist noch lange nicht zu Ende.

2003 ist da und es gibt endlich wieder Grund zum Feiern. Wir haben den Euro, die erste Staffel DSDS läuft, Roger Federer gewinnt seinen ersten Grand Slam, die deutschen Fußball-Frauen gewinnen die WM, die Türkei gewinnt des ESC mit einem absoluten Banger, Greta Thunberg wird geboren, Modern Talking löst sich auf – ein Jahr voller guter Nachrichten.

Die Rodi ist mittlerweile erwachsen und kann mit Stolz behaupten, zwei weitere Male Umweltschule in Europa und 2. Sieger beim Energy Globe Award geworden zu sein. Seit drei Jahren werden Schüler:innen zum Streitschlichten ausgebildet, um auch das Klima in der Schule zu retten. Es ist die Zeit von Baggy Pants und Miss Sixty, HipHop ist auf dem Vormarsch, der Begriff „Roderbronxx“ wird Mode und alles ist ziemlich fresh in da Hood. Die IGS sieht noch immer aus, als wäre ein Transformer ins Rapsfeld gefallen, aber sie hat sich gemausert und wird immer mehr zum Vorzeigeprojekt. Die Rodi am Flexen und sie rollt mit ihren Besten.

2013 und die IGS hat Promistatus. Nachdem Kool Savas mit dem Videodreh zu „Rapfilm“ vier Jahre zuvor das Prädikat „Gangster“ in genau diese Turnhalle holte, haben wir offiziell Game. Im Jahr danach – Zwei Zehn, dem besten Abi-Jahrgang ever – gewinnt Lena auch noch den ESC und die Welt fragt sich, wer ist eigentlich Hannover?! Spätestens jetzt braucht dieser Text keine weiteren Ereignisse, um den Zeitgeist einzufangen. Digger, wir sind der Zeitgeist. Spätestens jetzt hat mein Abi-Shirt mit dem lausigsten Abi-Spruch ever – „Ein Sanitäter in Sekretariat Raum 18“ – Sammlerwert, weil hinten klein, aber gut lesbar auch der Name Lena Meyer-Landrut steht. Um diesen Erfolgskurs abzurunden, wird die IGS 2013 noch zur „Schwerpunktschule für Schüler:innen mit Unterstützungsbedarf“ gewählt. Allen wird allmählich klar, die IGS ist in der Tat für alle da, manche wird sogar zum Star und geht es nach King Kool Savas, sind alle auf dem Rodifilm hängen geblieben. Die Schule ist 40, doch die Laufbahn noch immer nicht zu Ende geschrieben.

2023 und sie haben uns ein Denkmal gebaut. Nach 50-jährigem Bestehen gibt es nicht nur 50 Jahre Grund zum Feiern, sondern auch 50 Jahre Bestand eines Komplexes, der zwar aussieht, als hätte man einen Haufen gelber Gummibärchen eingefroren, aber der irgendwie auch cool ist. Und vor allem besonders. Ein cooler, besonderer, fresher, gelber Riese, der sich Denkmalschutz verdient hat und zeigt, dass frühe Visionen und nachhaltiges Engagement honoriert werden. Was lange währt, wird endlich gelb.

Neben dieser Chronik, neben all dieser Meilensteine, die mal mehr, mal weniger bekannt sind, haben alle ihre eigenen Geschichten und Erinnerungen an diese Schule. Diese kann man mal mehr, mal weniger gut öffentlich erzählen. Und es gibt Geschichten, die ich nicht erzählen darf, weil Leute Angst haben, dass ihnen das Abi nachträglich aberkannt wird.

Aber wenn man mal ins Schwelgen kommt, dann wird die Liste lang mit „Weißt du nochs?“ Weißt du noch, wie wir in der Grundschule auf Sitzbällen saßen, statt auf Stühlen? Crazy, oder! Weißt du noch, wie wir uns in der Pause immer auf das Dino-Ei stürzten?
Weißt du noch, wie wir Gogos in der Pausenhalle zockten und alle anderen guckten?
Weißt du noch, wie wir Schneebälle über den Hof feuerten, als die Lehrer:innen mal nicht guckten?
Weißt du noch, wie wir mit Kassettenrekorder und Mikro Tarkan coverten?
Weißt du noch die Breakdance-Battles, weißt du noch die Magic Karten?
Weißt du noch Theaterstücke, weiß du noch die Musicals?
Weißt du noch, wie Platz für alle da war und man sich mit Respekt begegnete?
Weißt du noch, wie jede Fähigkeit gesehen, geschätzt und auch gefördert wurde.
Weißt du noch, wie die Lehrer:innen mit uns auf Augenhöhe diskutierten, als wir dachten, wir sind jetzt auch Erwachsene?
Weißt du noch, wie Daniel Stendel auf einmal zum Fußballturnier kam?
Weißt du noch, wie Hesho und Hoyo ihre H&H Rollen auf den Teller brachten und wir plötzlich ein eigenes Restaurant in der Schule hatten?

Ich könnte ewig weiter machen, denn hier haben Viele viel erlebt. Shout out an Paul Gecks. Auch ich war ziemlich gern auf dieser Schule. Natürlich war nicht alles immer nur bombe. Niemand sollte schon um viertel vor acht in die Schule müssen. Manch Lehrkraft hatte ihren Zenit schon dezent überschritten, wobei ich davon nur gehört hab. Und ich verstehe bis heute

nicht, was Cappy im Unterricht tragen mit weniger Respekt zu tun hat. Es geht ums Wohlfühlen. Und ich hoffe sehr, dass der Bundesverband der Eltern in Deutschland die restriktive Kleiderordnung gegen Jogginghosen oder tiefe Ausschnitte nicht durchsetzt. Denn Demokratie ist sicher nicht, wenn Menschen Dinge entscheiden, von denen sie nicht betroffen sind.

Aber ich wäre heute nicht hier, wenn ich nicht extrem froh gewesen wäre, an der IGS Roderbruch gelandet zu sein. Ich hatte keine Ahnung von der Schule und hab mich nur entschieden, weil meine engsten Freunde nach der Zehnten auch hierher wollten. Und dann kam ich an eine Schule, an der ich Lehrer:innen beim Vornamen nannte, Theater als Fach hatte und sehr viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Backgrounds eine Gemeinschaft bildeten. Als Kind aus der List jeden Morgen bis nach Roderbruch zu fahren, macht wenig Spaß. Aber für das, was ich bekam, habe ich das gern gemacht.

Lehrpersonen zu haben, die man schätzt, die wissen, was sie tun und dich nachhaltig mit Ressourcen ausstatten – das ist nicht selbstverständlich. Vielleicht hatte ich nur Glück, vielleicht ist es auch die Rodimagic. Alrun, Susi, Anna, Randi, Maren, Wolfgang, Christoph, Kalle – und auch die, die ich hier nicht erwähne: ein Dank geht an euch alle. Und auch an einen, den ich damals gern öfter noch gehabt hätte, weil er immer lässig drauf war. Du wirst hier sicherlich sehr viel vermisst, lieber Bruno, rest in power.

Jenseits allen Stadtgebummels
am Saum des Saums des Zentrums
steht ein Durchgangszimmer zweier Welten zwischen Bourgeoisie und Brennpunkt

Ein Viertel mit einer großen Schule voller toller Ambition
voller Gütesiegel, voller Preise voller Sinn für Inklusion

Ob Europaschule oder Kulturkomet
oder energiebewusste Fairtrade School
die IGS rockt nicht nur gegen rechts
sie macht auch die Farbe gelb ganz ehrlich cool

Es gibt für Schulen allgemein viel Bedarf für mehr Reform vieles, was sich ändern muss die Neugestaltung einer Norm

Die Rodi ist und bleibt ein richtig guter Anfang denn hier reicht man sich die Hände
eine Idee, die seit 50 Jahren reift
und sie ist noch lange nicht zu Ende

2 Kommentare zu „50 Jahre IGS Roderbruch – Eine Rede von Jonas Scheiner

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  1. Wie krass gut ist diese Rede! Hut ab, mit Tränen in den Augen gelesen bin ich froh und stolz, dass meine 3 Jungs diese coole Schule besuchen und jeden Tag aus der Nordstadt diese weite Reise auf sich nehmen. Einer davon hat das Abi gerade in der Tasche und macht sich auf ins Leben, aber ein paar Jahre sind wir noch dabei. Und ich freue mich, dass sie an der Rodi so viel besser begleitet und aufs Leben vorbereitet werden als an den meisten anderen Schulen. Danke dafür!!!

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von Anders Noren.

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