Offener Brief an alle Schülerinnen und Schüler von Dirk Rennekamp

Liebe Schülerinnen und Schüler,

bevor ihr viel lesen müsst, schreibe ich euch gleich am Anfang was ich euch sagen möchte.

Lasst euch nicht verrückt machen!

Geratet nicht in Panik, weil Schule nicht so abläuft wie gewohnt!

Habt keine Angst vor eurer Zukunft!

Und wer jetzt noch weiter liest, kann erfahren, weshalb ich sicher bin, dass ihr euch keine Sorgen machen müsst, was eure Corona Schulzeit und deren Auswirkung auf eure Zukunft betrifft. Aber dazu müsst ihr auf jeden Fall noch den vorletzten und letzten Absatz dieses Briefes lesen.

Es gibt die schlimmsten Voraussagen für euch. Zum Beispiel, dass eure Wissenslücken nicht mehr aufzuholen seien, dass ihr deshalb in Zukunft weniger verdienen werdet als die Jahrgänge vor und nach euch. Dies wurde sogar in Euro pro Monat berechnet. Oder dass ihr keine guten Jobs als Corona Jahrgänge bekommen werdet. Auch, dass ein Abitur aus der Coronazeit als weniger wertvoll eingestuft werden könnte, sagen Erziehungswissenschaftler und Bildungspolitiker voraus. 

Ich habe mich gefragt, weshalb man euch das Leben durch all diese Horrormeldungen noch schwerer macht als es in dieser Zeit ohnehin schon ist. 

Eine Antwort habe ich auch gefunden. Die Verfasser dieser Horrormeldungen haben Angst.

Angst davor, dass etwas auffliegt, was schon längst hätte auffliegen müssen: das Bildungssystem.

Es gibt wohl im Augenblick nur eine einhellige Meinung, von allen geteilt und mit etlichen Beispielen belegt: Corona wirkt wie eine Lupe, die bisher gleichmütig hingenommene Probleme, Verwerfungen oder Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft messerscharf sichtbar macht. Das gilt auch für die Bildung.

Wohlgemerkt, ich schreibe dies als Lehrer, der mit 12 Jahren eigener Schulzeit und 35 Dienstjahren insgesamt 47 Jahre Schule auf dem Buckel hat. 

Oups, momentmal, nur 12 Jahre eigene Schulzeit? Abitur nach 12 Jahren, gab es das denn schon in den 1970igern? Ja, das gab es. Einfach weil der Schuljahresbeginn von Ostern auf den 1. August umgestellt wurde. In vielen Bundesländern, auch in Niedersachsen, wurden dann mal eben zwei Schuljahre in einem Kalenderjahr durchgeführt, 2in1 sozusagen. 

Und? Kräht heute noch ein Hahn danach? Verdienen die damals betroffenen 12 Geburtsjahrgänge heute weniger Geld als die Geburtsjahrgänge davor oder danach? Sind sie etwa sogar dümmer als die Menschen ohne Kurzschuljahre? Natürlich nicht!

Aber wie geht das denn? Wie konnte denn der ganze Unterrichtsstoff aufgeholt werden? Man schafft doch so schon kaum den Stoff, der für ein Schuljahr vorgesehen ist. Und verrückterweise stieg die Zahl der Auszubildenden und Abiturienten auch nach diesen 2in1 Schuljahren immer weiter an. Haben die Schülerinnen und Schüler, Auszubildenden und Studierenden damals nächtelang gebüffelt, um den verpassten Unterrichtsstoff aufzuholen? Nö, haben sie nicht! Ich weiß wovon ich rede, ich war schließlich dabei.

Und trotzdem gehören diese Kurzschul-Schülerinnen und -Schüler heute zur Generation der Gutverdiener und haben so ganz nebenbei unser Land mächtig nach vorne gebracht.

Hmmm, wie kommt das denn? Wird euch nicht immer wieder eingeschärft, wie wichtig Bildung für euch und unser Land ist? Und ob sie das ist! Ungeheuer wichtig!

ABER, und jetzt bin ich einfach mal wieder Schüler mit der immer wieder zu Recht gestellten Frage: WOFÜR SOLL DAS ALLES GUT SEIN, WAS WIR IN DER SCHULE LERNEN?

Auch und besonders mir als Mathelehrer wurde diese Frage ungezählte Male gestellt. So etwa die ersten 20 Jahre meiner Unterrichtszeit habe ich mich auch noch angestrengt, diese Frage ‚sinnvoll‘ zu beantworten. So nach dem Motto, wenn du keine Klammern ausmultiplizieren kannst, wirst du die binomischen Formeln nicht verstehen und wenn du die binomischen Formeln nicht verstehst, kannst du quadratische Gleichungen nicht mit Hilfe der quadratischen Ergänzung lösen, dann kannst du die Nullstellen einer quadratischen Funktion nicht berechnen, es sei denn, du kannst dir die p/q-Formel merken, die allerdings nur anwendbar ist, wenn der Koeffizient vor dem quadratischen Glied eine 1 ist, also dann doch lieber das Ausmultiplizieren von zwei linearen Klammerausdrücken lernen, oder? 

Für Schülerinnen und Schüler eine Bullshit-Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ausmultiplizieren.

Auch mit Ausflügen in die Architektur, Ingenieurswissenschaften oder Meinungsforschung habe ich es versucht, Fragen nach dem Mehrwert des Unterrichtsstoffs zu beantworten. Schließlich habe ich es aber aufgegeben, da diese Ausflüge immer nur noch deutlicher machten, dass in der Schule fast nur auf Vorrat gelernt wird. Vielleicht brauche ich es einmal, vielleicht auch nicht. Das ist so motivierend wie nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen, um mir vielleicht mal einen Knopf damit annähen zu können. Wie gesagt, vielleicht.

Ich habe mich dann darauf verlegt, die für mich einzig schlüssige Antwort zu geben:

DU MUSST DAS LERNEN, UM EINEN MÖGLICHST HOHEN SCHULABSCHLUSS ZU ERREICHEN.

So läuft der Hase in unserer Gesellschaft. Nicht was du lernst ist entscheidend, sondern was als Abschluss dabei herauskommt. 

Schaut man sich an, wie vollgestopft jedes Unterrichtsfach mit Nischenwissen ist, möchte man sich fragen, ob den Verantwortlichen entgangen ist, dass Herr Gottfried Wilhelm Leibniz wohlderletzte Universalgelehrte der Menschheit war. Es wird keiner hinzukommen, soviel ist sicher.

Es ist mehr als überfällig, dass mit diesem universellen Bildungsansatz auf Vorrat aufgeräumt wird. Unter dem Einfluss der Corona Lupe geht den Verfechtern dieser Bildungspolitik vielleicht schon der Popo auf Grundeis. Deshalb werden die oben beschriebenen Horrorszenarien wohl verbreitet, sozusagen auch auf Vorrat, um eventuelle Stiche in unsere wohlbehütete Bildungsblase schon im Vorfeld abzuwehren. 

Für euch, liebe Schülerinnen und Schüler bleibt im Augenblick nur, die Zeit so gut es geht für euch zu nutzen. Wie gesagt, ein hoher Bildungsabschluss ist für euer Leben wichtig. Ob das gerecht ist oder nicht, ist für euch jetzt nicht entscheidend, es ist eine Tatsache. Also ergreift die Chance, die diese ungewöhnliche Zeit für euch bereithält.

Ihr könnt mir glauben, dass die überwältigende Mehrheit eurer Lehrerinnen und Lehrer auf eurer Seite steht. Die Leistungen, die ihr jetzt im Home Schooling oder in halber Gruppe im Präsenzunterrichtet abliefert, werden besonders gewürdigt und wertgeschätzt. Bitte rafft euch auf, dieses besondere Wohlwollen für euch zu verwenden. Die Chancen für einen hohen Bildungsabschluss stehen jetzt besonders gut, wenn ihr die Disziplin aufbringen könnt, dem Unterricht auch auf Distanz zu folgen und die gestellten Aufgaben abliefert. 

Social Networking ist euer Ding, pusht euch gegenseitig. Habt ein Auge auf eure Mitschülerinnen und Mitschüler. Ein Arbeitsblatt nicht erledigt und hochgeladen? Weshalb nicht? Fragt nach. Bietet Hilfe an. Kümmert euch. Zeigt es euren Eltern, wie nützlich Social Networking sein kann. Da seid ihr die Experten. Niemand macht euch da etwas vor!

Bitte überlasst den Schwarzmalern nicht das Feld. 

Herzliche Grüße, euer Dirk

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